Dienstag, 30. April 2024

🐬 Der Delphin als Lebensretter und Freund: Bemerkenswerte antike Berichte von Herodot und Plinius

Delphin-Fresko in Knossos

Dass Delphine immer wieder Menschen das Leben retten ist durch viele einschlägige Berichte belegt. Wie weit das älteste dieser Zeugnisse aber schon zurückliegt, überrascht dann doch. Der antike Geschichtsschreiber Herodot von Halikarnassos schreibt im 1. Buch seines Geschichtswerks "Historien" (historíai) von einem entsprechenden Vorfall, der sich rund 150 Jahre vor seinen Lebzeiten, nämlich um 600 v. Chr., zugetragen haben soll. Ersichtlich wird anhand des überlieferten Textes ganz nebenbei auch, dass Seereisen in der Antike nicht nur aufgrund von Stürmen und am Horizont auftauchenden Piratenschiffen äußerst gefährlich sein konnten, sondern sich das Unglück mitunter auf eine Weise manifestierte, die uns heute unerwartet erscheint, damals aber - wie man dem Text zwischen den Zeilen entnehmen kann - vielleicht gar nicht so selten gewesen ist. Es stellt sich daher die Frage, wie viele Unglücksraben in der Antike aufgrund ähnlicher Umstände in einem nassen Grab endeten...

[...]. Periandros war Tyrann von Korinth. Ihm widerfuhr, wie die Korinther erzählen - darin stimmen die Lesbier mit ihnen überein - während seines Lebens eine äußerst merkwürdige Geschichte: Arion aus Methymna sei auf einem Delphin nach Tainaron gebracht worden, der Sänger zur Kithara, der keinem seiner Zeitgenossen nachstand, und habe als erster Mensch, soweit wir wissen, einen Dithyrambos gedichtet, ihm diesen Namen gegeben und in Korinth vorgetragen.
Dieser Arion habe, so heißt es, den größten Teil seiner Zeit bei Periandros verbracht, dann aber den Wunsch verspürt, nach Unteritalien und Sizilien zu reisen; er habe, als er viel Geld verdient hatte, wieder nach Korinth zurückkehren wollen. Er sei also von Tarent aufgebrochen und habe ein Schiff mit korinthischer Besatzung gemietet, da er niemandem mehr Vertrauen schenkte als den Korinthern. Diese jedoch hätten auf See den hinterhältigen Plan gefasst, Arion über Bord zu werfen und somit in den Besitz seines Geldes zu kommen. Arion habe die Absicht der Leute erkannt und um Gnade gefleht, indem er ihnen sein Geld überlassen wollte, aber um sein Leben bat. Er habe sie freilich nicht dazu überreden können, vielmehr hätten die Seeleute ihm befohlen, entweder sich selbst zu töten, um eine Bestattung zu Lande zu erhalten, oder möglichst schnell ins Meer zu springen. Da sie es nun so wollten, habe Arion in seiner großen Not darum gebeten, ihm wenigstens zuzugestehen, in vollem Ornat auf der Ruderbank stehend zu singen. Nach seinem Gesang, so versprach er, werde er sich töten. Die Leute hätten sich gefreut, dass sie den besten Sänger unter den Menschen hören würden, und hätten sich vom Heck des Schiffes zur Mitte zurückgezogen. Arion aber habe seinen vollen Ornat angelegt, zur Kithara gegriffen, habe sich auf die Ruderbank gestellt, die Hohe Weise gesungen und sich nach dem Ende der Weise, so wie er war - in vollem Sängerschmuck -, ins Meer gestürzt. Die Seeleute seien nach Korinth gefahren, den Arion aber habe ein Delphin aufgegriffen und nach Tainaron gebracht. Er sei an Land gegangen, in seinem Ornat nach Korinth gekommen und habe nach seiner Ankunft die ganze Geschichte erzählt. Periandros aber habe Arion nicht geglaubt und ihn deshalb in Haft genommen, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, irgendwohin zu gehen; auf die Seeleute habe er ein Auge gehabt. Nach deren Ankunft habe er sie zu sich rufen lassen und nachgefragt, ob sie etwas über Arion berichten könnten. Jene hätten geantwortet, er befände sich heil und unversehrt in Unteritalien und sie hätten ihn wohlbehalten in Tarent zurückgelassen. Da aber habe sich Arion ihnen gezeigt, so wie er vom Schiff gesprungen war. Sie seien sehr erschrocken und hätten, da sie überführt waren, das Vorgefallene nicht mehr leugnen können. So erzählen es die Korinther und Lesbier, und von Arion steht in Tainaron eine nicht allzu große Weihegabe: ein auf einem Delphin reitender Mensch.
Herodot | Historien 1,23-24 | Übers.: Christine Ley-Hutton | Reclam, 2002

Man darf hier natürlich ein wenig skeptisch sein. So ist heute etwa nicht mehr sicher, ob der erwähnte Sänger mehr Realität oder mehr Mythos gewesen ist. Andererseits ist es sehr unwahrscheinlich, dass Erzählungen wie diese ohne wahren Hintergrund entstanden sind. Nein, wir dürften es hier tatsächlich mit dem ältesten bekannten Bericht über die Rettung eines Menschen durch einen Delphin zu tun haben. Auch wenn es sich vielleicht nicht exakt in der beschriebenen Weise zugetragen hat, so wird doch ersichtlich, dass bereits unsere Vorfahren vor gut zweieinhalbtausend Jahren mit dem hilfsbereiten Verhalten von Delphinen bestens vertraut gewesen sind. Genau das bezeugt auch ein Brief des über 400 Jahre nach Herodot lebenden Römers Plinius. Er beschreibt darin sogar noch erstaunlichere Dinge und pocht ausdrücklich darauf, dass sein Informant äußerst verlässlich sei. Übrigens, fast könnte man hier meinen, dass die Macher der Fernsehserie "Flipper" diesen uralten Bericht gelesen haben. Was durchaus denkbar ist, denn die Briefe des Plinius sind eine der eher bekannteren und bedeutenderen Schriftquellen der Antike. 

Plinius grüßt seinen Caninius!
Zufällig bin ich auf eine wahre Begebenheit gestoßen, die aber eher einer erfundenen gleicht und Deines überaus glücklichen, erhabenen und dichterischen Talentes würdig ist. Ich bin aber darauf gestoßen, als während einer Mahlzeit verschiedene Wundergeschichten aus aller Welt berichtet wurden. Der Erzähler ist höchst glaubwürdig; doch was fragt ein Dichter nach Glaubwürdigkeit? Trotzdem ist der Erzähler ein Mann, der Dein volles Vertrauen hätte, selbst wenn Du ein Geschichtswerk schreiben würdest.
In Afrika gibt es eine Kolonie Hippo, unmittelbar am Meer gelegen. Nahe dabei liegt eine schiffbare Lagune. Aus ihr führt nach Art eines Flusses ein Kanal zum Meer, der abwechselnd, je nachdem die Flut zurück- oder vorwärts drängt, sich bald ins Meer ergießt, bald wieder in die Lagune zurückläuft. Menschen jedes Alters halten sich hier aus Begeisterung fürs Fischen, Segeln und auch fürs Schwimmen auf, besonders die Jungen, die Muße und Spiel dorthin locken. Für sie bedeutet es Ruhm und Tapferkeit, möglichst weit hinauszuschwimmen. Sieger ist, wer das Ufer und seine Mitschwimmer am weitesten zurücklässt. Bei diesem Wettkampf wagte sich ein Junge, mutiger als die übrigen, ziemlich weit hinaus. Da begegnete ihm ein Delphin; bald schwamm er vor dem Jungen her, bald folgte er ihm, bald umkreiste er ihn, schließlich nahm er ihn auf seinen Rücken, setzte ihn ab, nahm ihn wieder auf seinen Rücken, trug den Zitternden erst aufs hohe Meer hinaus, kehrte dann wieder zur Küste um und brachte ihn wieder ans Land zu seinen Kameraden.
Die Nachricht verbreitete sich in der Siedlung; alle strömten zusammen, betrachteten den Jungen wie ein Wunder, befragten ihn, hörten ihm zu und erzählten es weiter. Am folgenden Tag belagerten sie das Ufer, schauten hinaus aufs Meer und was wie Meer aussah. Die Jungen schwammen, unter ihnen auch der erwähnte Junge, jedoch vorsichtiger. Der Delphin kam wieder zur gleichen Zeit, schwamm wieder auf den Jungen zu. Jener floh mit den übrigen. Der Delphin, als wollte er ihn einladen und zurückrufen, sprang empor, tauchte unter, zog verschiedene Kreise um ihn und entfernte sich.
Das geschah am zweiten Tag, das am dritten, das an den folgenden, bis die am Meer aufgewachsenen Jungen sich wegen ihrer Ängstlichkeit zu schämen begannen. Sie schwammen an ihn heran, spielten mit ihm, riefen ihn, berührten ihn auch und streichelten ihn; und er ließ es sich gefallen. Es wuchs die Kühnheit durch den Versuch. Besonders der Junge, der es als erster versucht hatte, schwamm heran, sprang auf seinen Rücken, wurde weg- und wieder zurückgetragen, glaubte, von ihm wiedererkannt und geliebt zu werden, und liebte ihn seinerseits; keiner fürchtete sich, keiner wurde gefürchtet. Das Vertrauen des Jungen und die Zutraulichkeit des Delphins wurden größer. Auch die anderen Jungen schwammen zugleich rechts und links, ermunterten sie und riefen ihnen zu. Zusammen mit ihm - auch das ist ein Wunder - schwamm noch ein anderer Delphin, jedoch nur als Zuschauer und Begleiter; denn er tat oder duldete nichts Ähnliches, sondern führte ihn nur hin und zurück, wie den Jungen die übrigen Jungen. Es ist unglaublich, doch so wahr wie das vorige, dass der Delphin, Reittier und Spielkamerad der Jungen, sich sogar öfter an Land ziehen und im Sand trocknen ließ und, wenn es ihm zu warm wurde, sich ins Meer zurückwälzte.
Es ist bekannt, dass Octavius Avitus, Legat des Statthalters, den an Land gezogenen Delphin aus törichtem Aberglauben mit Salböl übergoss; vor dem ungewohnten Geruch des Salböls floh er ins Meer und erschien erst viele Tage später wieder, aber geschwächt und traurig; nachdem er bald seine Kräfte wiedererlangt hatte, nahm er seine frühere Ausgelassenheit und seine gewohnten Dienste wieder auf. Zu diesem Schauspiel strömten alle Magistrate zusammen; ihre Ankunft und ihr Aufenthalt zerrüttete die kleine Gemeinde durch die neuen Kosten. Schließlich verlor der Ort selbst seine Ruhe und Abgeschiedenheit; man beschloss, den Grund für das Zusammenströmen der Leute heimlich zu beseitigen.
Mit wieviel Mitgefühl, mit welchem Wortreichtum wirst Du diese Begebenheit beweinen, ausschmücken und steigern! Freilich ist es nicht nötig, etwas hinzuzuerfinden oder beizufügen; es genügt, wenn die Wahrheit nicht beeinträchtigt wird. 
Lebe wohl! 
Plinius der Jüngere | Epistulae 9,33,1-11 | Übers.: H. Philips, M. Gibel | Reclam, 1998/2014

Das traurige Ende einer durchaus glaubwürdigen Erzählung. Den Rummel mussten schließlich alle Einwohner der nordafrikanischen Stadt Hippo Regius miterlebt haben. Oder nicht miterlebt haben, wenn es eine Erfindung gewesen wäre. Ein Lügner, der sich das alles nur ausgedacht hätte, wäre daher rasch aufgeflogen*. Außerdem deckt sich das Beschriebene mit dem auch uns bekannten Verhalten von Delphinen, die dem Menschen viel Zuneigung entgegenbringen, obwohl dieser das Vertrauen der Tiere leider immer wieder missbraucht - heute wie schon vor Jahrtausenden.


* Abschweifende Notiz am Rande: Die gleiche Überlegung legt auch die historische Existenz des Jesus von Nazareth sehr nahe. Ob es diesen Mann gegeben hat, war schließlich für Zeitgenossen relativ leicht in Jerusalem und in vielen seiner anderen Wirkungsstätten zu verifizieren/falsifizieren. Als das Christentum zum ersten Mal verlässlich in außerchristlichen/heidnisch-römischen Quellen greifbar wurde, lebten noch viele Zeugen, die, selbst wenn sie Jesus nicht persönlich gekannt hatten, doch von dem Aufruhr (plus Gerichtsprozess), den er in Jerusalem verursacht hatte, wissen mussten. Auch als ungefähr zur Mitte des 1. Jahrhunderts die ersten Evangelien entstanden, gab es noch entsprechende Augenzeugen. Ein erfundener Jesus wäre damals nicht aufrechtzuhalten gewesen. Hier hätte man als Betrüger völlig anders vorgehen müssen, nämlich indem man die körperliche Existenz des Jesus  zeitlich so weit zurücklegt, dass eine Nachprüfbarkeit unmöglich ist. Freilich, die behaupteten "Wunder", die Jesus vollbracht haben soll, sind eine ganz andere Geschichte. Die Verifikation von diesen war schon damals wesentlich schwieriger. Konnte man als Evangelienautor doch in der niedergeschriebenen Erzählung beispielsweise gezielt auf Personen zurückgreifen, die eventuell gar nicht mehr lebten und daher auch nicht mehr befragt werden konnten. So muss dieser Aspekt "Glaubenssache" bleiben.



Sonntag, 28. April 2024

🎧 Hörbares: Der Tod Karls des Großen -- Christlicher Grusel -- Welche historische Bedeutung hatte König David? -- Die Meuterei auf der Bounty -- usw.


 Der Tod Karls des Großen | Spieldauer 52 Minuten | DF | Stream & Info | Direkter Download

 Christlicher Grusel: Die Visionen der Nonne Anna Katharina Emmerick | Spieldauer 5 Minuten | DF | Stream & Info | Direkter Download
"Mel Gibson zeigt in seinem Film „Die Passion Christi“ das Leiden Jesu in besonders grausamer Weise. Vorlage für den Hollywood-Film waren Visionen der münsterländischen Ordensschwester Anna Katharina Emmerick." Der Film war ein großer Erfolg, der Preis dafür war freilich, dass Mel Gibson karrieremäßig von Lobbyorganisationen wie AIPAC, ADL etc. abmontiert wurde. Mir andererseits war der Film damals relativ wurscht. Das Thema ist mir aus Agnostikersicht zu "märchenhaft", auch wenn es einen wahren Kern hat, über dessen Größe man diskutieren kann. Meine Kritik erschöpft sich deshalb weitestgehend darin, dass man in der Produktion völlig unverständlicherweise nicht das zeitgenössische Latein des 1. Jahrhunderts gesprochen hat, sondern Spätlatein. Was anscheinend all jene Journalisten übersehen haben, die den Film für die authentische Sprache lobten...

 Die Meuterei auf der Bounty (am 28.4.1789) | Spieldauer 15 Minuten | WDR | Stream & Info | Direkter Download
So viele Lügen wurden zu diesem Fall schon von Zeitgenossen verbreitet. Und Hollywood, verantwortungslos und bis ins Mark dumm, hat diese dann dermaßen in die Köpfe der Menschen gehämmert, dass sie dort nicht wieder rauszubekommen sind. Der später bis in den Rang eines Konteradmirals aufgestiegene William Bligh ist ein Opfer von klassischer "character assassination" (aka "Rufmord"). Auch heute noch eine allenthalben anzutreffende Vorgehensweise, die quasi in den Werkzeugkasten eins jeden Parteipolitikers und der meisten Journalisten gehört.

 Archäologie: Ich will die Sensation in 1000 Jahren sein | Spieldauer 34 Minuten | MDR | Stream & Info | Direkter Download
Darf man das auch als den Aspekt einer narzisstischen Selfie-Generation verstehen?

 Französische Revolution - Der Code Civil | Spieldauer 40 Minuten | DF | Stream & Info | Direkter Download

 14. Jahrhundert: Bedeutende Herrscherinnen - Königin Margarethe von Dänemark | Spieldauer 38 Minuten | DF | Stream & Info | Direkter Download

 Welche historische Bedeutung hatte König David? | Spieldauer 2 Minuten | SWR | Stream & Info 


Freitag, 26. April 2024

📽️ Videos: Science Talk über Experimentelle Archäologie -- Großer Fund eines Hobbyarchäologen -- Ausgrabung mit Nervenkitzel -- usw.


 Science Talk: Experimentelle Archäologie | Spieldauer 30 Minuten | SWR | Stream & Info

 Archäologen finden erstaunliche Überreste von Schildkröten | Spieldauer 1 Minute | MDR | Stream & Info 

 Sondiergrabungen in Mitholz zeigen: Munition ist in gutem Zustand | Spieldauer 5 Minuten | SRF | Stream & Info
Das ist mal eine Grabung mit echtem Nervenkitzel!

 Bad Windsheim: Neues Strohdach im Freilandmuseum | Spieldauer 5 Minuten | BR | Stream & Info
Vielleicht können die Kollegen in Meßkirch da noch etwas lernen 😃


 Umbau im Museum Ulm als baugeschichtliches Überraschungsei | Spieldauer 2 Minuten | SWR | Stream & Info

 Großer Fund eines Hobbyarchäologen in der Ausstellung | Spieldauer 3 Minuten | BR | Stream & Info
"Hobbyarchäologe" - höhö, bei der Bezeichnung geraten einige Archäologen sicher gleich in Schnappatmung.

 What did Republican Rome look like? | Spieldauer 10 Minuten | Ancient Rome Live | Stream & Info 




Mittwoch, 24. April 2024

📖 Buchrezension und launige Generalabrechnung: "Der offizielle Baustellenführer" des Campus Galli (2024) 😆

Campus Galli 2024

Was ich von der in Meßkirch angesiedelten Kloster- bzw. Mittelalterbaustelle Campus Galli halte, dürfte hinlänglich bekannt sein. Nun ist kürzlich eine aktualisierte Ausgabe des Begleithefts zu dieser tragikomischen Dauerverhohnepiepelung des Steuerzahlers erschienen. "Der offizielle Baustellenführer" soll einen Eindruck vom aktuellen Stand der Dinge vermitteln. Nehmen wir den Autor sowie Campus-Galli-Geschäftsführer Hannes Napierala beim Wort und unterziehen wir einige seiner Aussagen exemplarisch einer Realitätsüberprüfung. 

Vor inzwischen mehr als 10 Jahren begann das ehrgeizige Projekt, den St. Galler Klosterplan als echte Mittelalterbaustelle zum Leben zu erwecken - zunächst mit nur einigen wenigen Handwerkern, auf einem noch dicht bewaldeten Gelände. Von den großen, mittelalterlichen Gebäuden, die einmal kommen sollten, war damals noch wenig zu erahnen.

Davon ist auch heute noch nichts zu erahnen, handelt es sich bei dieser sogenannten "Klosterstadt" doch um eine armselige Schmalspurvariante von dem, was im frühmittelalterlichen Klosterplan von St. Gallen enthalten ist. Wirklich große Bauten gibt es auf dem Gelände des Campus Galli bisher nicht (bestenfalls als "mittelgroß" anzusprechende). Vieles wird stattdessen eine oder mehrere Nummern kleiner gebaut. 
Im Klosterplan von St. Gallen, der kein wirklicher Bauplan, sondern eher eine schematische Darstellung ist, sind keine verlässlichen Maße zu finden. Außerdem fehlt die dritte Dimension - es ist also nicht klar ersichtlich, ob die rund 50 eingezeichneten Bauten mitunter über Stockwerke verfügen sollen. Nur in wenigen Ausnahmen wird dies erkennbar, etwa wenn, wie im Fall der Basilika, Wendeltreppen eingezeichnet sind oder in einer der spärlichen Beischriften ein einschlägiger Hinweis auftaucht. Da nun das Projekt Campus Galli über unzureichende Mittel verfügt, neigt man dort meiner Beobachtung nach dazu, derlei Interpretationsspielräume dahingehend auszunutzen, tendenziell bescheidenere Varianten der im St. Galler Klosterplan eingezeichneten Bauten zu errichten. Oder sie gleich ganz wegzulassen.

Doch über die Jahre ging es Schritt für Schritt voran. Wir konnten uns an neue Herausforderungen wagen, weitere Handwerker einstellen und den St. Galler Klosterplan immer mehr zum Leben erwecken.

Der ist ja lustig. Hat es doch erst im Vorjahr in den Medien geheißen, dass man aufgrund der desolaten Finanzlage des Projekts den Personalstand VERRINGERN musste. Die Schwäbische Zeitung schrieb im Juli: "Am höchsten seien die Personalkosten, so Finanzdezernent Peter Hotz. Durch Stellenabbau und Stundenreduzierung ohne Lohnausgleich wurden bereits fast fünf Vollzeitstellen eingespart, die wieder hochgefahren werden sollen, sobald die Besucherzahlen steigen und damit auch die Einnahmen." 
Das muss auch heute noch weitestgehend der Stand der Dinge sein, da jetzt am Saisonanfang noch gar nicht ersichtlich sein kann, wie sich die Besucherzahlen entwickeln werden.  

Getragen wird das Projekt vom gemeinnützigen Verein  "Karolingische Klosterstadt Meßkirch e. V.", der zugleich Arbeitgeber und Aufsichtsgremium ist. Daneben gibt es einen Förderverein, den "Freundeskreis Campus Galli e. V.". Jeder ist herzlich willkommen und eingeladen, diesem beizutreten, um das Projekt zu unterstützen.

Das gewählte Konstrukt wurde schon in der Frühphase des Projekts von Beobachtern als "merkwürdig", "obskur" und "windig" bezeichnet. Der als "gemeinnützig" deklarierte Trägerverein nimmt nicht nur keine neuen Mitglieder auf, sondern selbst die aktuellen Vorstandsmitglieder werden auf der Homepage des Projekts verschwiegen (möglicherweise ist es diesen Verantwortungsvermeidern nicht recht, allzu sehr mit einem Versagerprojekt assoziiert zu werden). Präsentiert wird der Öffentlichkeit lediglich der Vorsitzende Anton Oschwald. Die Gemeinde soll als Hauptsponsorin des Campus Galli außerdem einige parteinahe 'Sockenpuppen' in den Trägerverein gesetzt haben. Daneben gibt es noch den erwähnten "Freundeskreis", der eine Art Parallelverein darstellt und sich quasi als das Gesicht des Campus Galli präsentiert, aber keine nennenswerten Entscheidungsbefugnisse hat. Dieser "Freundeskreis wird traditionell von einem Parteipolitiker geleitet. Das Projekt ist aufgrund der vielfältigen Politiknähe daher nicht als privat einzustufen, sondern als ein klar staatlich kontrolliertes. Es ist deshalb kaum überraschend, dass der Campus Galli einerseits zwar finanziell aus dem letzten Loch pfeift, andererseits aber immer und immer wieder mit absurden Mengen an Steuergeld am Leben erhalten wird. Ein tatsächlich privater Verein würde nach über 11 Jahren des betriebswirtschaftlichen Dauerversagens wohl kaum weiterhin mit Staatsknete alimentiert werden. 

Zur Anwendung kommen auf Campus Galli die handwerklichen Methoden und die Materialien, die auch im 9. Jahrhundert in dieser Gegend zur Verfügung standen. Kompromisse werden nur gemacht, wenn sie unbedingt notwendig sind, d.h. wenn die Sicherheit unserer Mitarbeiter gefährdet wäre, wenn es nicht finanzierbar ist oder wenn es nicht mit heutigem Recht oder aktuellen Vorschriften vereinbar ist.

Man beachte besonders den Passus mit der Nichtfinanzierbarkeit. Das ist ein sich selbst ausgestellter und weidlich ausgenützter Freibrief, damit dieses Mittelalter-Kombinat abseits der Öffentlichkeit schweres Gerät einsetzen kann. So wurde z.B. ein Teich mittels Bagger ausgehoben, Bäume mit Motorsägen gefällt, massenhaft Steinmaterial mit Maschienen bearbeitet und in der zum Projekt gehörenden Landwirtschaft ein Traktor eingesetzt. Damit löst sich das Marketing-Alleinstellungsmerkmal, nämlich die behauptete authentisch-mittelalterliche Arbeitsweise, in Luft auf. Man könnte auch sagen: Die inkonsequent agierenden Projektbetreiber halten die Öffentlichkeit mit ihren vollmundigen Versprechen seit mehr als einem Jahrzehnt zum Narren. 

Neben dem Betrieb von "Campus Galli" als lebendiges Museum erhofft sich die archäologische Forschung Erkenntnisse aus der praktischen Anwendung und Umsetzung all dessen, was ansonsten nur in der Theorie erarbeitet werden kann. Diese Methode wird auch als Experimentelle Archäologie bezeichnet und stellt ebenfalls einen wichtigen Teil des Projekts dar.

Soso, ein wichtiger Teil des Projekts soll die Experimentelle Archäologie also sein. Ja und wo bleiben dann all die 'Papers' nach über 11 Jahren Laufzeit? Wo sind die zu erwartenden Berge an wissenschaftlichen Publikationen, mit denen man vielleicht jene Steuergeld-Millionen halbwegs rechtfertigen könnte, die bisher in den Campus Knalli geflossen sind? Antwort: Es gibt sie nicht! Die Betreiber tingeln stattdessen besonders gerne bei anderen Freilichtmuseen herum und schauen sich diverse Techniken dort ab. So etwa beim Burgbauprojekt Guédelon (Frankreich). Dergleichen ist natürlich keine ernsthafte Forschung, sondern vielmehr Recherche für die Museumspädagogik zuhause. Erforscht wird beim Campus Galli demnach primär die eigene Unwissenheit, die man dann zum allgemeinen Stand der Wissenschaft erklärt. Man könnte geradezu von einem Strohmannargument sprechen. Sie stellen selber einen Pappkammeraden auf, nur um diesen umhauen zu können.
Auch die Partnerschaft mit der Uni Tübingen hat keinen nennenswerten Mehrwert für die Forschung. Eher geht es dabei um 'Studentenbespaßung'. Aber der Campus Galli kann sich hier öffentlichkeitswirksam das Mäntelchen der Wissenschaftlichkeit umhängen. Der durchschnittliche Journalist, der dann darüber berichtet, ist nicht in der Lage, den ganzen Krempel qualitativ einschätzen. 

Die anfängliche Infrastruktur (Wege, Parkplatz) wurde von der Stadt Meßkirch übernommen, aus dem LEADER-Programm der EU gab es Zuschüsse. Aktuell wird von der Stadt Meßkirch noch ein Betriebskostenzuschuss beigesteuert. Auch der Landkreis Sigmaringen schießt im Bedarfsfall noch etwas zu. Die Höhe der benötigten Zuschüsse richtet sich nach dem jeweiligen Saisonergebnis. Mittelfristig soll das Projekt auf eigenen Beinen stehen und sich vorwiegend aus den Eintrittsgeldern finanzieren, damit die Abhängigkeit von öffentlichen Zuschüssen sinkt.

Nach immerhin schon 11 Jahren Dauerbezuschussung der drolligen Klosterbaustelle schwadroniert dieser Mensch davon, "mittelfristig" aus der Verlustzone kommen zu wollen. Dazu muss man wissen, dass seitens des Campus Galli Bauzeiten von 80, 100 und noch mehr Jahren genannt wurden. Do the math! 

Für die Stadt und das Umland trägt Campus Galli zur touristischen Regionalentwicklung bei. Seit der Eröffnung 2013 ist in den angrenzenden Gemeinden ein deutlicher Anstig an Übernachtungen zu verzeichnen.

Er hält diese Behauptung offensichtlich für so evident, dass er sie mit keinen harten Fakten belegt. Dazu wäre er freilich auch gar nicht in der Lage, weil die angeblich positiven Auswirkungen auf den Tourismus nie umfangreich und seriös evaluiert wurden. Vielmehr handelt es sich dabei u.a. um anekdotenhaftes Geplapper von Parteipolitikern und politiknahen Heinis, die z.T. selber in das Förderdickicht des Campus Galli verstrickt sind. Davon abgesehen ist die Aussage "ein deutlicher Anstieg" hochgradig schwammig. Das kann fast alles bedeuten, je nachdem wie man das Wort "deutlich" interpretiert. Und eine Korrelation/Scheinkorrelation ist ohnehin nicht mit einer Kausalität gleichzusetzen. Als ausgebildeter Wissenschaftler sollte Hannes Napierala das eigentlich wissen. 
Interessant ist aber in diesem Zusammenhang, dass sich Nachbargemeinden von Meßkirch trotz einschlägiger Begehren ausdrücklich weigern, den Campus Galli mitzufinanzieren. Offensichtlich sieht man keinen Nutzen darin. Will heißen, man ist zur Einschätzung gelangt, dass das Projekt eben keine signifikanten touristischen Auswirkungen in der Region entfaltet und Investitionen aus der eigenen Tasche daher nicht rechtfertigbar sind. 

Jahrelang begleitete auch der Verein Werkstättle e. V. die Arbeiten auf dem Gelände und bot eine Arbeitsgelegenheit für bis zu zwölf Langzeitarbeitslose. Diese Maßnahme musste Ende 2022 leider eingestellt werden.

Natürlich bedauert der Herr Geschäftsführer das, denn diese Arbeitskräfte sind ebenfalls mit Geld der autochthonen Zahlesel finanziert worden. Noch günstiger geht es für ihn und seinen eingetragenen Schnorrerverein nicht.

Ein reales Bauprojekt benötigt aber genau jene definitiven Entscheidungen, die im Spannungsfeld zwischen den technischen Möglichkeiten und der geistigen Welt des 9. Jahrhunderts einerseits, so- wie der Umsetzbarkeit und den Vorschriften des 21. Jahrhunderts andererseits zu suchen sind.

Genau darin liegt bei solchen Projekten der größte Hund begraben. Der überbürokratisierte Korinthenkacker-Staat macht es mit seinen unflexiblen Vorschriften unmöglich, zu einer halbwegs lückenlosen empirischen Erkenntniskette zu gelangen. Wenn man etwa moderne statische Sicherheitserwägungen bei einem Bau berücksichtigen muss, obwohl man von Originalbauwerken aus dem Mittelalter genau weiß, dass es auch anders geht (die stehen schließlich seit vielen Jahrhunderten!), dann kann am Ende fast immer nur schnöde Museumspädagogik herauskommen, aber keine konsequent durchgezogene Experimentalarchäologie, die wirklich umfangreiche Daten liefert. Bei Großprojekten wie dem Campus Galli bleibt daher viel wissenschaftliches Potential ungenützt liegen. Der Wert für die Forschung kann letztendlich nur marginal sein. So erschöpft sich dieser beim Campus Galli vor allem in Kleinkram wie dem Guss einer Glocke, irgendwelchen halbgaren Versuchen mit Töpfereiprodukten und dem Austesten verschiedener Mörtelmischungen. Zu letzterem 'Experiment' hat mir der ehemalige Leiter einer Dombauhütte freilich schmunzelnd erklärt, dass nichts, was er darüber von Campus-Galli-Mitarbeitern vor Ort gehört hat, für ihn neu war.  

Vom Konzept eines Rundwegs haben wir uns im Jahr 2019 verabschiedet. Die Besucher sind eingeladen, das Gelände selbst zu erkunden.

Schon beim Projektstart 2013 habe ich gesagt, dass der Rundweg eine Schnapsidee ist, u.a. weil dieser die Besucher zwingt, durch unbespieltes/langweiliges Gelände zu latschen. Es hat nur sechs Jahre gedauert, bis die Projektbetreiber ebenfalls zu dieser Erkenntnis gelangt sind ^^. Für eine dergestalt lange Leitung dürfte die berühmte "Entschleunigung" verantwortlich sein, auf die man beim Campus Galli immer so betont stolz ist. 

Die Mitarbeiter hatten sich schon früh für den Bau der Klosterplan-Scheune ausgesprochen, was sich gut mit den Erkenntnissen der Bauforschung deckt: Interessanterweise entstehen die Scheunen tatsächlich sehr häufig in einer frühen Bauphase - sie gehörten z. B. auch nach dem Dreißigjährigen Krieg vielerorts zu den ersten Gebäuden, die wieder aufgebaut wurden. Dies zeigt, wie wichtig zu allen Zeiten ein Lagerplatz für die Ernte war

Formell ist das richtig, aber im Kontext der Realität auf dem Campus Galli handelt es sich um irreführenden Schwachsinn hoch drei. Denn natürlich hätten die Mönche als erstes feste Wohngebäude errichtet, um sich im Winter nicht den Allerwertesten in Zelten oder zugigen Unterständen aus Reisig abfrieren zu müssen. Beim Campus Galli wurde hingegen nicht so vorgegangen, sondern man hat stattdessen Handwerkerbuden, eine Holzkirche und die besagte Scheune gebaut. Das kann man aus projektspezifischen Gründen so machen, aber dann sollte man nicht insinuieren, die Reihenfolge der errichteten Gebäude würde historischen Vorlagen entsprechen! 

Der Bau der Scheune wurde im Rahmen eines ELR-Projekts gefördert (Entwicklungsprogramm Ländlicher Raum). Dazu wurden von der LEADER-Aktionsgruppe Oberschwaben circa 300.000 Euro bereitgestellt.

Geradezu ein Schnäppchen für den Steuerzahler! Und es wird nicht das letzte sein, so viel kann man angesichts der beständig Roten Zahlen getrost prognostizieren.

Das verwendete Eisen ist zu großen Teilen Werkzeugstahl, der zwar modern (industriell) hergestellt ist, jedoch so ausgewählt wurde, dass er den Eigenschaften des unlegierten, mittelalterlichen Stahls möglichst nahekommt. Gleiches gilt für die Holzkohle, die ebenfalls zugekauft wird.

So werden halt an allen Ecken und Enden 'Kompromisse' eingegangen. Beim erwähnten Stahl ist es beispielsweise so, dass selbst relativ billige moderne Sorten jenen des Mittelalters haushoch überlegen sind. Man muss sich dazu nur diverse Untersuchungen an archäologischen Funden aus mittelalterlichem Stahl anschauen; selbst vermeintlich hochwertige Schwerter fallen immer wieder mit Einschlüssen (Schlacke) negativ auf, die bei größerer Belastung wie Sollbruchstellen wirken. Getrost kann man deshalb davon ausgehen, dass auch Werkzeug aus modernem, also homogener aufgebautem Stahl, langlebiger und robuster ist. 

Für die erste Phase unserer Bautätigkeit haben wir uns entschieden, die Beete des Kräutergartens mit Lesesteinen zu umranden, später werden diese evtl. durch Bohlen ersetzt, wie bereits im Zusammenhang mit dem Gemüsegarten beschrieben

Die bauen seit über 11 Jahren, aber immer noch will man sich in der ersten Phase des Projekts befinden! Dass die Beete des Kräutergartens laut mittelalterlichen Quellen (Walafried Strabo) mit dicken Brettern eingerahmt gehören, habe ich schon vor 9 (!) Jahren bemängelt. Aber diese trägen Kostgänger des Steuerzahlers haben bis jetzt nichts daran geändert, obwohl sie, wie das Zitat oben belegt, ganz genau wissen wie es richtig gemacht gehört. An diesem Beispiel sieht man freilich sehr gut, mit welcher wissenschaftlichen 'Sorgfalt' beim Campus Galli gearbeitet wird. Hauptverantwortlicher für diese Laissez-faire-Herangehensweise ist der überforderte Geschäftsführer Napierala. Ihm ist einfach zu viel wurscht.

Über die Holzkirche des Campus Galli behauptet er.

gebaut 2014-2017

Im Rahmen meiner Rezension der Chronik des Campus Galli machte ich im Jahr 2018 bereits auf folgenden Umstand aufmerksam:

Herr Heim schreibt dazu u.a., das Holzkirchlein des Campus Galli habe 2017 "gewissermaßen den letzten Schliff" erhalten.
Interessanterweise hieß es bereits in der Chronik des Vorjahres, dass die Kirche fertig sei (Zitat: "2016 konnte mit der Holzkirche das erste Bauwerk der karolingischen Klosterstadt fertiggestellt werden"). Außerdem wird auch jetzt noch, im Jahr 2018, laut Medienberichten an dem Bau herumgewerkelt. Im Angesicht dessen fühlt man sich hier an den Film "Und täglich grüßt das Murmeltier" erinnert.

Was ich mit diesem kleinen Beispiel verdeutlichen möchte: Man kann diesen Leute nichts glauben. Mal heißt es so, dann wieder so. Sie biegen sich die Dinge einfach nach Bedarfslage zurecht. Möchte man etwa wieder einmal Fördergelder abräumen oder sich in den Medien wichtig machen, um mehr Besucher anzulocken, dann verweist man großspurig auf vermeintliche Leistungen. So wurde deshalb ein Bau wie das kleine Holzkirchlein mehrfach als "fertig" deklariert, obwohl bei ehrlicher Betrachtung noch einige Arbeiten daran zu erledigen waren. Oder würde man etwa heute ein Wohnhaus als "fertig" bezeichnen, wenn z.B. noch der Fußboden fehlt?
Übrigens, was Herr Napierala im Abschnitt über die Holzkirche geflissentlich verschweigt: Das Dach ist viel zu steil und damit ahistorischer Unsinn. Ich habe das schon kritisiert, als die ersten Pläne veröffentlicht wurden. Es entsteht hier der starke Verdacht, dass man sich das gotische Dach der karolingischen Torhalle vom Kloster Lorsch zum Vorbild genommen hat. Auf Facebook wurde seitens des Campus Galli vor ein paar Jahren dann gegenüber einem anderen Kritiker die falsche Dachneigung tatsächlich eingeräumt. Sie würde auf mangelhafter Recherche beruhen. Warum aber verschweigt man den nicht gerade kleinen Fehler ausgerechnet im aktualisierten "Baustellenführer"? 

Die Glocke wurde im April 2018 endlich erfolgreich vor Ort gegossen, nachdem zwei Versuche in den Jahren 2015 und 2016 misslangen. Der Glockenguss fand in Kooperation mit dem erfahrenen Kunstgießer und Archäologen Dr. Bastian Asmus statt.

Wenn dieser Mann so erfahren und toll ist, wieso hat der die Glocke dann gleich zweimal versemmelt?
Und von wegen "endlich erfolgreich". Der Gießer selbst schreibt nämlich in einem Aufsatz über den Guss folgendes: 

Der Versuch zum Formen der Glocke hat sehr gut funktioniert, auch wenn während der Rekonstruktion ein Fehler passiert ist, der verhinderte, dass die Glocke eine Krone erhielt. Dieser Fehler war jedoch keiner der Rekonstruktion, sondern auf Unachtsamkeit zurückzuführen

Natürlich verschweigt Hannes Napierala seinen Lesern auch dieses Faktum. Zu peinlich wäre es, klar einzugestehen, dass auch der dritte Guss zumindest ein Teilmisserfolg war und eigentlich hätte wiederholt werden müssen. Stattdessen heißt es:

[...] Aufgrund ihrer Form wird dieser Glockentyp als "Bienenkorbglocke" bezeichnet. Derartige Glocken klingen noch nicht so voll und sauber wie die heute gebräuchlichen Glocken, deren Form sich seit dem 13. Jahrhundert kaum verändert hat.

Die Glocke des Campus Galli klingt wie ein verbeulter Blecheimer. Ob das wirklich zu 100 Prozent an der historisch vorgegebenen Form liegt? Oder nicht auch daran, dass das Ding vielleicht insgesamt schlecht gemacht wurde und deshalb kleine Risse oder von außen nicht sichtbare Einschlüsse aufweist?
Übrigens, meiner Erinnerug nach wurde die herstellungsspezifisch mit Graten überzogene Glocke - typisch mittelalterlich - mittels Winkelschleifer in ihre endgültige Form gebracht.

Nahe der Steinmetzkreuzung, dort, wo das Gelände nach drei Seiten hin langsam abfällt, wird in vielen Jahren die große Abteikirche des Klosterplans gebaut werden.

Man beachte: "In vielen Jahren" wollen sie überhaupt erst mit dem Bauen beginnen! Dass es sich bei dieser wolkigen Ankündigung um eine reine Luftnummer handelt, weiß dieser Prahlhans von einem Autor ganz genau. Er behauptet es trotzdem, wohl des Marketings wegen. Schließlich fußt das ganze Projekt Campus Galli in der öffentlichen Wahrnehmung auf der Idee, man würde ein richtig imposantes Großkloster errichtet, mit einer gewaltigen Kirche als Mittelpunkt. Dem potentiellen Besucher gibt man so das Gefühl, Zeuge von etwas ganz Großem zu sein. Das jedoch ist, wie die Realität nahelegt, völliger Bullshit. Die Anlage wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit selbst bei einer dauerhaften staatlichen Bezuschussung nie über die Ausmaße eines kleinen klösterlichen Filialbetriebs hinauskommen. Für mehr fehlt einfach das Geld. Grund: Das Besucherinteresse ist zu gering und wird auch zu gering bleiben. Weil: Kloster = langweilig und "Campus" hört sich nach ödem Bildungsgedöns an. Eine Burg hätte man stattdessen errichten sollen. Oder eine karolingische Königspfalz. Und einen anderen Standort hätte man finden müssen, anstatt ins baden-württembergische Meßkirch zu gehen, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Aber für all das ist es jetzt zu spät. Man hat es quasi von Anfang an vergeigt. Trotzdem verharrt die Politik bei ihrer dem Prinzip Hoffnung folgenden Strategie der Bezuschussung: Stichwort "sunk cost fallacy". 

Hier entsteht seit Herbst 2021 das erste Steingebäude auf dem Campus Galli. Im St. Galler Klosterplan ist es das Nebengebäude des Abtshofs, der "von Zäunen rings umgeben" (im Klosterplan: Saepibus in gyrum ductis sic cingitur aula) ist. Der Abtshof besteht aus zwei Gebäuden, die mit einem gemeinsamen Innenhof einen abgeschlossenen Gebäudekomplex bilden. Das gröBere der beiden Gebäude wird erst später gebaut werden.

Als in den Medien immer und immer wieder davon die Rede war, es würde nun der Abtshof des Klosters errichtet, war das demnach schlicht gelogen. Vielmehr wird nur ein Nebengebäude davon realisiert (auch eine halbe Wahrheit kann bereits eine ganze Lüge sein). Wann und ob der Hauptbau errichtet wird, steht anscheinend völlig in den Sternen. Die Projektbetreiber wissen es wohl selber nicht so recht. Oder sie wissen es, trauen sich aber nicht Tacheles zu reden, weil eine lange Wartezeit ihr Versagen noch offenkundiger machen und das Besucherinteresse kaum fördern würde. Denn wie schon oben gesagt, die Illusion, es würde wirklich ein Großkloster errichtet, muss aus marketingstrategischen Gründen unbedingt aufrecht erhalten werden. Letztendlich ist der Campus Galli ein Würstchen, das sich als dicke Salami inszeniert.

Leinenstoff nimmt Farbe deutlich schlechter an als Wolle. Dies ist auch ein Grund, warum unsere normale Arbeitskleidung überwiegend ungefärbt bleibt.
Der um das Jahr 830 n. Chr. entstandene Stuttgarter Psalter zeigt die Menschen in sehr farbenprächtiger Kleidung. Ob Textilien im Frühmit- telalter tatsächlich entsprechend gefärbt waren oder ob die bunten Darstellungen stark übertrieben sind um das Buch attraktiver zu gestalten, ist nicht gesichert. Textilarchäologen gehen heute davon aus, dass das Färben von Kleidung für viele Menschen im Frühmittelalter keine große Rolle gespielt hat.

Was für ein Sammelsurium aus Halbwahrheiten, das dieser Kurzstreckendenker da unter Berufung auf irgendwelche namentlich nicht genannten "Textilarchäologen" zum Besten gibt! Ja, Leinenfasern nehmen Farbstoffe tendenziell weniger gut an und verlieren sie auch schneller wieder. Das hat die Bevölkerung im Frühmittelalter aber offenkundig nicht davon abgehalten, trotzdem einen Teil ihrer Leinenklamotten zu färben. Ich habe im Blogbeitrag zu meiner (ungefärbten) Thorsberghose einige Beispiele dafür genannt (wer will, findet noch jede Menge weitere!).  

  • Notker von St. Gallen (9./10. Jh.) erwähnt rote Leinenhosen, über die man im Bereich der Waden ebenfalls rot gefärbte Binden schlang (Mönch von St. Gallen: De Gestis Caroli Magni, I, 34)
  • Der Verstorbene im sogenannten Sänger- bzw. Leiergrab von Trossingen  (6. Jh.) trug eine hellgelb gefärbte Hose aus Leinen.

Es gibt demnach wesentlich bessere Quellen als die Buchmalereien im Stuttgarter Psalter. Ohnehin ist völlig klar, dass dieses Werk grundsätzlich keine perfekte Vorlage für gefärbte Textilien sein kann. Sind doch die oftmals besonders 'knalligen' Pigmente, die in der Buchmalerei verwendet wurden, mineralischer Natur und für Kleidung ungeeignet. Egal ob man Leinen oder Wolle färben möchte. 
Von all dem abgesehen kann ich aus eigener Erfahrung berichten, dass beispielsweise mit Walnussschalen gefärbtes Leinen die hellbraune Färbung seit vielen Jahren sehr gut behält. Außerdem habe ich festgestellt, dass sich schon etwas länger getragenes und dadurch weicher gewordenes Leinen besser färben lässt. Es wäre nun die Aufgabe des Campus Galli, genau so etwas experimentell zu erkunden. Aber stattdessen flüchtet man sich in pauschalisierende Ausreden.  


Fazit: Das vorliegende Büchlein ist voller Blabla, das einer kritischen Betrachtung nicht standhält. Die Bebilderung wiederum ist durchwachsen; teilweise findet man auf der Homepage des Projekts wesentlich bessere Motive. 
Sicher, dem Interessierten wird hier - im Gegensatz zur haarsträubenden ersten Ausgabe des Baustellenführers - ein leicht verständlicher Überblick hinsichtlich des Projekts Campus Galli geboten. Aber die ungeschminkte Wahrheit wird ihm vom Autor und Geschäftsführer Hannes Napierala (wenig überraschend) vorenthalten. Wer jedoch genau daran interessiert ist, der muss bei mir reinschauen 🙃.

Abschließender Hinweis: Weil ich hier vor allem das Projekt besprochen habe, aber weniger das Buch, verzichte ich diesmal auf die Bewertung mit Sternen. Ich werde allerdings noch bei Amazon eine angepasste Rezension hochladen.

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Samstag, 20. April 2024

🎧 Hörbares: Ovids "Metamorphosen" als Dauerbrenner -- Brutaler antiker Kriegsherr als Vorkämpfer für Toleranz -- Der faszinierende Frauenheld Giacomo Casanova -- usw.


 Ovids Metamorphosen - Verwandlungsgeschichten als Dauerbrenner | Spieldauer 22 Minuten | BR | Stream & Info | Direkter Download

 Spektakulärer Knochen-Fund – Lebte einst ein 25 Meter langes Reptil im Ozean? | Spieldauer 25 Minuten | DF | Stream & Info | Direkter Download

 Elisabeth I. von England | Spieldauer 39 Minuten | DF | Stream & Info | Direkter Download

 Die Pippinische Schenkung | Spieldauer 48 Minuten | DF | Stream & Info | Direkter Download

 Das rätselhafte Petrusgrab im Petersdom | Spieldauer 43 Minuten | DF | Stream & Info | Direkter Download

 Toleranter Eroberer - Kyros der Große | Spieldauer 49 Minuten | DF | Stream & Info | Direkter Download
Die öffentlich-schlechtlichen Rundfunker lieben das Wort "Toleranz". Bis zum Erbrechen hauen sie es dem Medienkonsumenten in den absurdesten Zusammenhängen um die Ohren. Stichwort "nudging". Google spuckt alleine für die Website ard.de über 8000 Treffer aus. Diese Pseudoschlauberger sind sich mittlerweile nicht einmal zu blöd, den Toleranzbegriff einem längst verblichenen Potentaten aus Persien umzuhängen, der aus Geltungsdrang mit Feuer und Schwert unzählige Völker in seine Gewalt gebracht hat. Es reicht schon aus, dass dieser große Menschenfreund dabei nicht alle dahingemetzelt hat, um ihn heute vor einen ideologischen Karren zu spannen. Eines kann man aber grundsätzlich festhalten: Sobald ein historischer Staatenlenker von Geschichtsschreibern mit dem Beinamen "der Große" bedacht wurde - siehe etwa auch Alexander der Große oder Karl der Große - dann kann man getrost davon ausgehen, dass es sich vor allem um einen großen Massenmörder gehandelt hat. 

 Empire - Ein Hauch von Napoleon | Spieldauer 23 Minuten | BR | Stream & Info | Direkter Download

 Giacomo Casanova - Der faszinierende Frauenheld | Spieldauer 22 Minuten | BR | Stream & Info | Direkter Download
Erstaunlich, was die auf Wikipedia für ein Artikel-Ungetüm über Jakob Neuhauser geschrieben haben. Das Ding ist länger als der Artikel zu Caesar. Nur beim "Führer" haben sie sich ähnlich ins Zeug gelegt ^^. 


Donnerstag, 18. April 2024

📽️ Videos: Harte Diskussion zwischen Graham Hancock und dem Archäologen Flint Dibble über eine verlorene Zivilisation -- Sondengänger mit Expertise -- Archäologie studieren -- 100 Jahre Nofretete im Museum -- usw.


 Joe Rogan Experience #2136 - Graham Hancock & Flint Dibble | Spieldauer 266 Minuten | PowerfulJRE | Stream & Info
Joe Rogan ist der Gastgeber einer lange erwarteten, viereinhalb (!) Stunden langen Diskussion zwischen dem Archäologen Flint Dibble und dem Bestseller-Sachbuchautor Graham Hancock, der bekanntlich für manch Archäologen ein rotes Tuch darstellt. Thema ist vor allem Hancocks Theorie einer verlorenen Zivilisation, die durch einen globalen Kataklysmus ausgelöscht worden sein soll. Beide Seiten haben mal bessere, mal schlechtere Argumente. Phasenweise fliegen dabei ordentlich die Fetzen, etwa als es um einen Text von Flint Dibble geht, in dem er Graham Hancock quasi zum nützlichen Idioten sogenannter "White Supremacists" erklärt (dieser Text wurde im Übrigen auch von Archäologen im deutsche Sprachraum auf "X" herumgereicht, nachdem im Vorjahr Hancocks Doku-Reihe auf Netflix sich als ein riesiger Erfolg entpuppt hat). Aber die beiden Herren reißen sich dann doch wieder zusammen. Übrigens, Joe Rogans Sendungen erscheinen mittlerweile wieder in voller Länge auf Youtube, nachdem der Exklusiv-Vertrag mit Spotify ausgelaufen ist.


 Sondengänger mit Expertise | Spieldauer 8 Minuten | BR | Stream & Info 

 Spektakuläre Fresken in Pompeji ausgegraben | Spieldauer 1 Minute | Zeit Online | Stream & Info 

 Archäologie studieren - Eintauchen in die Antike | Spieldauer 13 Minuten | alpha | Stream & Info 
Die Fernsehheinis machen da ausgerechnet Werbung fürs Archäologiestudium, obwohl es, gemessen am Bedarf, längst viel zu viele Archäologen gibt. Die landen dann in völlig anderen Berufsfeldern, nachdem der Steuerzahler ihnen eine sauteure, nun aber sinnlose Spezialausbildung finanziert hat. Doch was will man von quasi staatlichen Rundfunkern anderes erwarten, die müssen sich ja nicht dem freien Markt stellen. Daher auch die verzerrte Weltsicht. Ich habe da freilich eine ganz andere Herangehensweise: 1. Studienplätze streng begrenzen, indem man sich am regelmäßig evaluierten Bedarf des Arbeitsmarktes orientiert. 2. Strenge Aufnahmeprüfungen für alle Fächer 3. Keine Studiengebühren mehr, die den Nachwuchs von oft unbegabten G'stopften bevorzugen. 

 Rom: Unterirdische Schätze | Spieldauer 2 Minuten | ZDF | Stream & Info

 100 Jahre Nofretete im Museum | Spieldauer 3 Minuten | ARD | Stream & Info 
Dass die Nofretete-Büste völlig rechtmäßig nach Deutschland verbracht wurde, muss nicht viel heißen. Es braucht zukünftig nur wieder einmal eine Außenministerin, die zwar einerseits dumm wie ein Sack voller Hufeisen ist, sich aber andererseits unbedingt profilieren möchte, und schwupps ist die Büste schon wieder in Ägypten. Viele Medien sticheln schon seit Jahren dahingehend, so auch im oben verlinkten Beitrag. Das ist wohl Teil des kollektiven Masochismus in diesen völlig ideologieverblödeten Kreisen.

 Wiedereröffnung: Archäologische Staatssammlung München | Spieldauer 1 Minute | BR | Stream & Info 
Diese Heuchler haben den Denkmalschutz in Bayern in den Graben gefahren. Was für  idealtypische 'Watschengsichter'.


Montag, 15. April 2024

Flavius Josephus über jüdische "Parallelgesellschaften" in der Antike und warum der israelische Nationalheld Simon bar Kochba als "Sohn eines Lügners" bezeichnet wurde


Sich mit Rom anzulegen (noch dazu auf dem Höhepunkt seiner Macht) war selten eine gute Idee. Besonders nicht für ein vergleichsweise kleines Völkchen. Doch wenn die Massen erst einmal religiösen Fanatikern und politischen Verführern* hinterherlaufen, dann gerät der gesunde Menschenverstand leicht ins Hintertreffen. Selbstüberschätzung gewinnt stattdessen die Oberhand. So war es für Zeitgenossen sicher keine Überraschung, dass etwa die beiden großen jüdischen Kriege im 1. und 2. Jahrhundert jeweils zu Ungunsten der in der Provinz Judäa lebenden Juden ausgingen - mit katastrophalen Auswirkungen. Es folgte nämlich die Vertreibung bzw. die Zerstreuung der jüdischen Bevölkerung in alle Windrichtungen. Doch völlig neu war diese Situation ("Diaspora") für das jüdische Volk nicht. So führten etwa - ebenfalls nach einem verlorenen Krieg - schon Jahrhunderte vorher die Babylonier die zwangsweise Umsiedlung eines Teils der Juden in Richtung Zweistromland durch. Bibel-Forscher meinen, dass es dieses sogenannte "Babylonische Exil" war, welches Autoren des Alten Testaments zu der Erzählung von der Befreiung der Juden aus der ägyptischen Sklaverei durch Moses inspirierte. Vergessen darf man hier auch nicht, dass die jüdischen Kernländer an der Levante lange Zeit von den Pharaonen Ägyptens beherrscht wurden. Auch das wird in die biblische 'Story' eingeflossen sein, so wie ja überhaupt die ägyptische Kultur großen Einfluss auf das im Entstehen begriffene Judentum hatte - siehe etwa die Beschneidung oder das Schweinefleischverbot. Die Moses-Story war also eine Mischung aus historischen Ereignissen und viel Fiktion. 

Der jüdisch-römische Geschichtsschreiber Flavius Josephus, der ursprünglich als Kriegsgefangener während des Jüdischen Kriegs im 1. Jahrhundert nach Rom gelangte, hat in seinem umfangreichen Werk "Jüdische Altertümer" auch die besagte 'Gefangenschaft' der Juden in Ägypten beschrieben. Obwohl es sich - wie schon gesagt - dabei in der Realität wohl eher um die ägyptische Fremdherrschaft auf jüdischem Boden gehandelt haben dürfte, die dann im Kontext der späteren babylonischen Umsiedlung zu einer Versklavung in Ägypten uminterpretiert wurde. Doch wie auch immer, die Schilderungen des Josephus spiegeln vermutlich eine interessante historische Tatsache wieder. Nämlich das Ringen um die Bewahrung der jüdischen Identität in einem Staat, der nicht der eigene ist. Das Mittel der Wahl war dabei eine Abgrenzung gegenüber den fremden Herren.

Als nun Joseph von seines Vaters Ankunft Kunde erhalten (Judas war nämlich vorausgeeilt, um ihm dieselbe zu melden), ging er ihm entgegen und traf ihn bei der Stadt der Heroën. Vor allzu großer Freude wäre da Jakob beinahe gestorben. Joseph aber erfrischte ihn wieder; obgleich auch er sich vor Freude kaum halten konnte, hatte sie ihn doch nicht so ergriffen wie den Vater. Dann hieß Joseph seinen Vater langsam nachkommen; er selbst aber eilte mit fünf seiner Brüder zum (ägyptischen) König und meldete ihm, dass Jakob mit seiner ganzen Familie angekommen sei. Dieser nahm die Nachricht freudig auf und erkundigte sich bei Joseph, welche Lebensweise sie vornehmlich führten, damit er ihnen zur Fortsetzung derselben behilflich sein könne. Joseph entgegnete, sie seien vortreffliche Hirten, außerdem aber verständen sie keinen anderen Beruf. So wollte er verhüten, dass sie voneinander getrennt würden. Sie sollten vielmehr zusammenwohnen und für den Vater sorgen und nicht zu viel Verkehr mit den Ägyptern pflegen, wie es geschehen wäre, wenn sie mit ihnen dieselbe Lebensweise geführt hätten. Denn den Ägyptern war es verboten, Herden zu weiden.
Flavius Josephus | Jüdische Altertümer 2,7,5 | Marix Verlag, 2018

Auch in der viel späteren jüdischen Diaspora war diese Abgrenzung ein Kernelement (obschon sich nicht einmal annähernd jeder Jude streng daran hielt). Gut möglich ist, dass man von entsprechenden Texten im Alten Testament - auf die ja auch Flavius Josephus in seinen oben zitierten "Jüdischen Altertümern" ausgiebig zurückgreift - inspiriert wurde.
Diese Abgrenzung war allerdings ein zweischneidiges Schwert. Zwar konnte man seine kulturelle Identität bewahren, doch gleichzeitig nahm einen die Mehrheitsbevölkerung als Fremdkörper wahr, was schlussendlich sogar Ablehnung hervorrief (wir kennen das heute auch noch, Stichwort "Parallelgesellschaften"). Dieser antijüdische Groll war im Übrigen kein rein christliches Phänomen, das erst virulent wurde, als das Christentum im Römischen Reich, also in großen Teilen der antiken Welt, zur Staatsreligion emporstieg. Vielmehr existierte er schon in der polytheistischen Phase Roms. Besonders deutlich wird das in einem Zitat, welches vom römischen Geschichtsschreiber Tacitus stammt. Er schreibt:

"Unheilig ist bei den Juden alles, was bei uns heilig ist, und erlaubt ist bei ihnen, was für uns unrein ist."
H.D. Stöver | Christenverfolgung im Römischen Reich | Econ Verlag, 1982

Ins selbe Horn stößt der antike Autor Philostratos:

"Die Juden sind uns in ihrem Wesen ferner als Susa, Baktra (beides in Persien) und die Inder. Denn sie teilen unser Leben nicht und teilen mit anderen Menschen weder Mahlzeiten noch Verträge, weder Gebete noch Opfer."
H.D. Stöver | Christenverfolgung im Römischen Reich | Econ Verlag, 1982

Die - zumindest so wahrgenommenen - monotheistische Eigenbrötelei der meisten Diaspora-Juden führte also zu einer ablehnenden Haltung durch die autochthone Bevölkerung. Extrawürste wie die Befreiung vom verbindenden Element des Kaiserkults (etwas, das man den Christen nicht zugestand), kamen bei manch Beobachter naturgemäß weniger gut an. Darüber hinaus ist sogar eine Befreiung vom Militärdienst überliefert.

Man muss auch die jüdischen "Ghettos" in den Städten des europäischen Mittelalters im Lichte der obigen Haltung weiter Teile der Diaspora-Juden sehen. Die räumliche Abgrenzen hatte nämlich eine lange Tradition; bereits in der Antike lebten ja Juden und andere Ethnien/Glaubensgemeinschaften oft in getrennten Stadtvierteln, wie etwa Alexandria bezeugt. Aber auch in Rom gab es jüdische Zusammenballungen, beispielsweise will der Jude Philo von Alexandria den Transtiber-Distrikt quasi in jüdischer Hand vorgefunden haben. 
Bei all dem handelte es sich entweder um selbst gewollte oder staatlich angeordnete Abgrenzungen. Oft war dergleichen ohnehin seitens aller Parteien erwünscht. Wenn auch das Ausmaß der Eingriffe durch die Obrigkeit im Laufe der Jahrhunderte von christlicher Seite zunehmend überschießend wurde. Das änderte sich in Europa erst deutlich im Zuge der Aufklärung, nachdem die Religion als zentrales Identifikationsmerkmal an Bedeutung verloren hatte. Und zwar für Juden und für Christen. In weiterer Folge überaus ungünstig für die europäischen/westlichen Juden war aber, dass ab dem späten 19. Jahrhundert auffällig viele von ihnen - vielleicht aufgrund historischer Erfahrungen - dem Marxismus zuneigten, nachdem sie der Religion den Rücken gekehrt hatten. Später zog der antimarxistisch eingestellte Nationalsozialismus daraus den pauschalisierenden Schluss Jude = Marxist/Kommunist und 'veredelte' diese Annahme mit rassistischen Elementen; stark vereinfacht ausgedrückt. Das Ende vom Lied ist jedenfalls bekannt. 


* Ergänzendes zur Einleitung: Der zentrale politische Verführer, welcher schlussendlich die nahezu totale Vertreibung der Juden aus Judäa zu verantworten hatte, war Simeon bar Kokeba / Simon bar Kochba. Interessanterweise wird dieser Mann von Politikern des modernen Staats Israel zu einem Helden hochstilisiert, obwohl sein Name lange Zeit in der jüdischen Tradition als "Bar Kozeba" verballhornt wurde, was so viel wie "Sohn des Lügners" bedeutet. Die abwertende Bezeichnung spielt, wie H.D. Stöver in seinem Buch Christenverfolgung im Römischen Reich schreibt, darauf an, dass Bar Kochba die Juden um ihre Hoffnungen betrog. Dieser vermeintliche Nationalheld soll es auch gewesen sein, der laut dem antiken christlichen Autor Justinius während seiner kurzen Herrschaft Zwangsbeschneidungen anordnete und sogar eine Christenverfolgung initiierte:

Davon kann euch die Tatsache überzeugen, daß in dem zu unseren Lebzeiten geführten Kriege Barchocheba, der Anführer des jüdischen Aufstandes, die Christen allein zu schrecklichen Martern verurteilt hat, wenn sie Jesus Christus nicht verleugneten und lästerten.
Justinus | Apologie 1,31 | in Christenverfolgung im Römischen Reich | Econ Verlag, 1982

Es darf wohl passenderweise mit dem jiddischen Begriff "Chuzpe" bezeichnet werden, wenn ausgerechnet ein Scharlatan, der sich selbst als eine Art Messias präsentiert, Menschen verfolgen lässt, weil sie dem Glauben an einen mutmaßlich falschen Messias anhängen... 

Dieses für das historische Verhältnis zwischen Christen und Juden sicher nicht ganz unwichtige Ereignis wird übrigens im entsprechenden Wikipedia-Artikel über Simon bar Kochba mit keiner Silbe erwähnt. Auch abseits von Wikipedia wird man nur selten etwas darüber finden. Der Leser mag seinen Verstand an der Frage schärfen, warum darüber so ungern geschrieben wird. 

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